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Zwei Handvoll Menschen sind heute gekommen, dem Regen zum Trotz. Er zieht feine Schlieren über die Gesichter auf den Erinnerungsstelen am Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma im Nationalsozialismus. Noncia Alfreda Markowa, Johan Weisz, Lidija Krylowa. „Etwa 500.000 Sinti und Roma wurden im Zweiten Weltkrieg umgebracht“, ruft Angelika Krüger, Strickmütze, grüner Schal, Pluderhose. „Für sie gab es nie eine Wiedergutmachung. Heute, am nationalen Gedenktag der Sinti und Roma, erinnern wir an diese menschenverachtende Politik und protestieren: Das Mahnmal muss bleiben.“ Denn bald soll ein S-Bahn-Tunnel unter ihm ins Erdreich getrieben werden, die Bäume mit den Lautsprechern in ihren Wipfeln, aus denen rund um die Uhr die leise Melodie einer Geige klingt, müssten fallen, die künstliche Wasserfläche im Zentrum des Mahnmals, ein Symbol für die Tränen der Opfer, wäre wohl nicht mehr zugänglich. „Das darf nicht sein“, sagt Krüger. Zustimmendes Murmeln, Applaus.
Es ist Ende Dezember, der Reichstag ragt hoch in den grauen Berliner Nachmittagshimmel. Die Protestgruppe hat sich dick eingemummelt, zwanzig Leute sind es vielleicht. Einige tragen über ihren Wintermänteln weiße Warnwesten mit einer Aufschrift: „Omas gegen Rechts“. Touristen schlendern vorbei, einzelne bleiben stehen. Schweigend gehen die Demonstrant:innen zur Wasserfläche, verteilen weiße Rosen am Rand, lesen die Inschriften. Im Boden drumherum liegen Steine mit den Namen der Vernichtungslager, den Brunnenrand säumt das Gedicht Auschwitz des italienischen Künstlers Santino Spinelli. Der Regen nimmt zu, Schirme werden aufgespannt. Schließlich fragt Krüger: „So, wer kommt jetzt mit einen Kaffee trinken?“ Fünf Leute machen sich auf zum Hopfingerbräu neben dem Brandenburger Tor.

300 Gruppen in ganz Deutschland
Angelika Krüger gehört zum Kernteam der Omas gegen Rechts, Ortsguppe Berlin Mitte. Seit 2018 ist die 71-Jährige dabei. Über das Stadtmagazin Tip war sie damals auf einen Aufruf der Bürger:inneninitiative gestoßen, die sich ein Jahr zuvor in Österreich gegründet hatte. Mit einer Freundin ging sie zu einem Treffen. „Es hat mir gefallen, wie klar diese ganz unterschiedlichen Frauen gegen Rechtsextremismus Position beziehen“, sagt Krüger. „Und dass sie nicht nur gegen etwas sind, sondern sich auch für etwas einsetzen – Frauenrechte, eine moderne Familienpolitik zum Beispiel.“
Vielleicht 500 Mitglieder haben die Omas gegen Rechts heute in Berlin, verteilt auf elf Ortsgruppen. In ganz Deutschland gibt es 300 Gruppen, von München bis Bremen, von Greifswald bis Saarbrücken. Manche organisiert als lockere Initiative, andere sind Teil des Vereins Omas gegen Rechts, der sich 2018 gegründet hat, um der Gesamtorganisationen einen strukturierten Rahmen zu geben. Krüger: „Wie sie sich organisieren wollen, bleibt den Mitgliedern vor Ort überlassen.“ Einmal im Monat treffen sich alle Gruppen zu Zoom-Meetings, um deutschlandweite Aktionen zu planen, wie vor der Bundestagswahl. Alle sind ehrenamtlich dabei, aus Spenden finanzieren die Gruppen Flyer und Demoschilder, Infostände und den Bau ihrer Website, Workshops und Lesungen. Denn längst zeigen die Omas nicht nur auf Demos Gesicht, sondern organisieren eigene Aktionen, Debattenrunden, Infoveranstaltungen: Wie sollten wir mit der AfD umgehen? Was tun gegen Femizide?
Das kommt an – die Bürger:inneninitiative boomt. Seit den Berichten der Investigativ-Plattform Correctiv über die Pläne Rechtsextremer bei ihrem Wannseemeeting im Januar 2024 hat sich die Zahl der Aktiven verdoppelt. Bei den offenen Treffen, zu denen sonst 30 Engagierte kamen, stehen plötzlich 120 vor der Tür. Überall bilden sich neue Stadtteilgruppen, extra Newcomer:innen-Meetings wurden eingeführt. Die meisten Omas sind zwischen 60 und 80 Jahre alt, aber es kommen auch Jüngere. „Neulich war eine 32-Jährige dabei“, erinnert sich Krüger. „Die Antifa war ihr zu radikal. Viele wissen einfach nicht, wo sie sich sonst organisieren sollen. Uns finden sie gut und identifizieren sich mit unseren Inhalten: demokratisch, klare Kante gegen Rechts.“ Auch Opas sind willkommen, allerdings bleiben nur wenige, zu frauendominiert sind die Runden, vermutet Krüger.
Lichterketten und Wahlspiele
Dass zunehmend Menschen der älteren Generation Position gegen Rechts beziehen, spiegelt einen Trend. Bei den Landtagswahlen in Brandenburg bekam die AfD bei den Wähler:innen Ü70 mit 16 Prozent gerade mal halb so viele Stimmen wie im Landesdurchschnitt. In Thüringen setzten 38 Prozent der 18- bis 24-Jährigen ihr Kreuz bei der AfD, aber nur 19 Prozent der Ü70. Und nur 8 Prozent der Wähler:innen über 70 entschieden sich bei der Europawahl 2024 für die AfD, 16 Prozent waren es im Durchschnitt aller Altersklassen. Viele Engagierte kommen aus dem linken Milieu in Ost und West, Anti-AKW-, Friedens- und Frauenbewegung.
Angelika Krüger zum Beispiel hat sich ihr ganzes Leben lang engagiert. Für Umweltschutz und Frauenrechte, gegen Rassismus. Mitte der 1960er-Jahre lebte sie mit ihren Eltern drei Jahre lang im Apartheitsregime von Namibia, ihre „politische Erweckung“ nennt sie das. „Es hat mich erschüttert, wie sehr die Schwarzen dort als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden“, sagt Krüger. Später brach der Alltagsrassismus in Deutschland in ihr Leben ein, sie ist alleinerziehende Mutter einer Schwarzen Tochter. „Geh zurück, wo du herkommst“, raunten der Tochter Passant:innen im Bus hinterher, auf Elternabenden in der Grundschule blafften einige Krüger an: „Was willst du uns vorschreiben, Schokokuss zu sagen, die heißen doch anders.“ Neben ihren Jobs im Reformhaus, als Tagesmutter, im Buchhandel hat sich Krüger daher immer engagiert. Meist spontan in lokalpolitischen Initiativen, mal in der Gewerkschaft, oft für einzelne Projekte. Bis sie zu den Omas gegen Rechts fand.
Plötzlich stehen bei Treffen 120 Engagierte vor der Tür
Im Hopfingerbräu sind die Fenster beschlagen. Tourist:innen schütteln die Nässe von ihren Schirmen, Mäntel dampfen an den Garderoben. Angelika Krüger und Siegrun Vlatten (Ortsgruppe Mitte), Lotte Roitzsch und Barbara Woll (Ortsgruppe Kreuzkölln) bestellen Tee und Käsestückchen, Kaiserschmarrn und Flammkuchen. Durchatmen, Kraft tanken. Es ist viel zu tun in diesen Wochen vor der Bundestagswahl. Grundsatz: Jede macht, was sie kann. Vlatten zum Beispiel kümmert sich um den „Aktions-Newsletter“, einen Überblick über die nächsten vier Wochen: Welche Demos sind angemeldet, wo könnten wir uns einklinken, welche Aktionen planen wir selbst, wer braucht Unterstützung? Eine Lichterkette gegen Hass und Hetze in Pankow, Stolpersteine zum Gedenktag der Kristallnacht putzen in Charlottenburg, ein Protestzug gegen Überfälle auf Politiker:innen, Treffen mit Partnerorganisationen wie dem Bundesnetzwerk für Zivilcourage. Ausgerüstet mit Buttons, Westen und den Schildern ziehen die Mitglieder von Demo zu Demo. Neuerdings gibts auch ein Enkel:inschild: „Meine Oma schickt mich“ oder trotzige rotzige Sprüche schwarz auf weiß: „I can’t believe I still have to protest against this fucking shit“.
Neue Formate sind entstanden. Die Teams haben Spiele für Jugendliche entwickelt: Wie funktioniert eine Wahl? Besuchen Schulen und diskutieren über Demokratie; machen Demokratie-Lesungen in Kitas; drehen Social-Media-Clips. Feste Termine haben sich etabliert. Jede Woche versammeln sie sich schweigend gegenüber dem jugoslawischen Grillhaus Maestral in Berlin-Reinickendorf, wo sich die AfD zum Stammtisch trifft; zeigen bei Veranstaltungen Kante vor der AfD-Propaganda-Schmiede Staatsreparatur im bürgerlichen Stadtteil Lichterfelde.
Gemeinsam Kompromisse finden
Und immer wieder werden die Omas um Unterstützung gebeten, gerade von kleinen Initiativen gegen Rechts im ländlichen Brandenburg, dem Verein Bunt statt braun etwa. Manchmal entsteht bei den Besuchen eine neue Oma-Gruppe. Woll: „Drei Omas dort sind mehr wert als 150 in Berlin. Es braucht ein verzweigtes Netz von Aktiven im ganzen Land, nur so hat man im Ernstfall Ansprechpartner:innen für Protest.“ Im Regionalexpress nach Brandenburg lassen sie ihre Buttons und Schilder dann lieber im Rucksack. „Wir werden oft angepöbelt“, sagt Krüger. Manchmal trennt die Senior:innen nur ein dünner Firnis aus Polizist:innen von der maskulinen Wucht eines Neo-nazimarsches, wie neulich beim Aufmarsch der rechtsextremen Kleinstpartei Der III. Weg in Bad Freienwalde. Woll: „Dann hab ich schon Schiss.“
Auch intern geht es bei einem breiten Bündnis wie den Omas gegen Rechts nicht ohne Konflikte. Frieden in der Ukraine ist Konsens, aber braucht es dafür Waffenlieferungen oder gerade nicht? AfD bekämpfen ja, aber mit oder ohne Verbot? Und Gaza, Israel? Schwierig. „Bisher haben wir es geschafft, uns nicht zu spalten“, sagt Woll. Krüger: „Unterschiedliche Positionen muss man aushalten, aber es wird schwerer.“ Roitzsch: „In einer neuen Debattengruppe suchen wir nun Kompromisse.“ Zum Beispiel: Kein offizielles Statement für ein AfD-Verbot, aber jedes Mitglied kann mit dem Omas-gegen-Rechts-Schild auf eine Unterstützer:innen-Demo gehen. Oder: Keine offizielle Solidaritätserklärung mit der Letzten Generation, aber individuell Aktionen vor Ort supporten. „Als sich die Letzte Generation am Moritzplatz auf die Straße geklebt hat, sind wir immer wieder wie Schnecken über die Straße geschlichen, als die Ampel längst rot war.“ Roitzsch lacht. „Schneller schafft man’s als Oma halt nicht.“
Draußen ist es dunkel. Käsestückchen, Kaiserschmarrn und Flammkuchen sind verputzt. Krüger, Woll, Vlatten und Roitzsch müssen los. Den Aktions-Newsletter fertig machen, die nächste kleine Rede schreiben, noch schnell zur Demo gegen Verschwörungstheorien am Tempelhofer Damm. „Im Moment ist es wirklich Wahnsinn“, sagt Krüger. Mal Pause machen? Ausgeschlossen. Woll: „Stell dir vor, die AfD macht einen Parteitag und keine:r protestiert.“ Krüger: „Was sollte ich dann Tochter und Enkel sagen, wenn sie mich später mal fragen: Was hast du getan, damit die Rechtsextremen nicht an die Macht kommen?“
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