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Narwale im Hitzestress

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28 Mai, 2025

This post was originally published on Good Impact

Die Arktis wird wärmer – das verändert das Ökosystem. Viele Arten sind bedroht, eine von ihnen: der Narwal. Was tun?

Martin Nweeia hat sich mittlerweile daran gewöhnt. An den hautengen Trockenanzug, der seine Knöchel und Handgelenke fest umschließt, die schwerfälligen Bewegungen im Wasser, an das Gefühl, wenn die Finger langsam steif werden. Doch eines wird wohl immer besonders bleiben: Wenn sich das Meer um ihn herum plötzlich bewegt, zu einer Strömung formt – und aus dem Blau ein Schatten auftaucht, langsam, riesig, ganz ruhig. Eine fünf Meter lange, lebende Landschaft mit marmorierter Haut und einem spiralförmigen Stoßzahn, der bis zu drei Meter lang werden kann – und eigentlich ein verlängerter Eckzahn ist, durch den Millionen von Nervenenden laufen. 

Doch bevor man ihn sieht, spürt man ihn. Den Narwal. Sein Pfeifen, Klicken und Summen, das man mit dem ganzen Körper fühlt. Wie sanfte Vibrationen, die durch den Brustkorb gehen. „Narwale sind majestätisch, in ihrer Nähe zu sein, erfüllt mich mit Demut“, sagt Nweeia, lächelt in die Facetime-Kamera. Er sitzt zu Hause auf seiner Couch in Sharon, Connecticut, fährt sich durch die kurzen Haare und über die buschigen Augenbrauen. Nweeia arbeitet an der Universität Harvard und am Polarinstitut des Wilson Center. Mehr als 20 arktische Expeditionen hat er geleitet – und gilt weltweit als Pionier in der Narwal-Forschung. 

„Nahezu alles an ihnen ist einzigartig“, sagt Nweeia. Narwale haben keine Rückenflosse, eine der dicksten Fettschicht aller Wale, leben ausschließlich in arktischen Gewässern und gehören mit bis zu 1.800 Metern zu den am tiefsten tauchenden Walen. Um sie zu erforschen, fangen Nweeia und sein Team meistens einige hundert Meter entfernt von der Küste einen Wal mithilfe eines Netzes und bringen ihn vorsichtig in seichtes Gewässer. „Wir haben 30 bis 40 Minuten, um Experimente an ihm durchzuführen – danach lassen wir ihn sofort frei.“

An einen Moment erinnert er sich noch genau: Mitte August 2005, Nweeia steht im seichten Meer, vor ihm ein Narwal. An diesem Tag ist er besonders aufgeregt, denn er probiert seine neueste Erfindung aus: ein Gerät, das Herz- und Hirnaktivität der Säuger misst. Monatelang hat er an seinem schwimmenden Labor gearbeitet, an Saugnäpfen gebastelt, die an Walhaut haften, Kabel in wasserdichte Isolierung gepackt. „Doch dann wurde ganz schlagartig, wie aus dem Nichts, mein rechtes Bein komplett taub.“ Nach einigen Sekunden kehrt das Gefühl zurück. „Ich bekam Panik. Gab es ein Leck im Kabel? Und warum nur ein Bein?“ 

Martin Nweeia (links) und ein Kollege inspizieren vorsichtig einen Narwal-Stoßzahn, Foto: Martin Nweeia

Einen Monat später schickt er die im Wasser aufgezeichnete Tonspur an einen Sound-Experten am Woods Hole Oceanographic Institute. Was der herausfindet, stellt die bisherige Forschung auf den Kopf: Narwale nutzen nicht nur Echolokalisierung – eine Technik, die viele Meeressäuger verwenden, um sich in Gewässern zurechtzufinden –, sondern auch ihren Stoßzahn zur Schallmanipulation. Sie lenken und verstärken Schallwellen. „Verrückt – der Narwal hat es geschafft, Schallwellen direkt auf mein Bein zu richten. Vielleicht als ein Hinweis: Hey, du bist im Weg, geh mal weg.“ 

Mehr Orcas, weniger Narwale

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Narwale nutzen die Klicklaute, um ihre Umgebung zu sehen, während der Jagd zu navigieren und mit anderen aus der Gruppe zu kommunizieren. Das Problem: Genau das wird ihnen jetzt erschwert. Denn das Eis in der Arktis schmilzt in einem rasanten Tempo. Prognosen sagen voraus, dass die Arktis im Sommer schon ab 2030 eisfrei sein könnte. Das führt zu drastischen Umweltveränderungen. „Mehr Orcas dringen in das Gebiet der Narwale vor, die sonst dichtes Eis als Schutz nutzen oder um sich auszuruhen“, sagt Nweeia. Viele Fischbestände wandern ab – und Narwale müssen weiter reisen, um Nahrung zu finden. 

Und dann sind da noch menschlicher Dreck und Lärm. „Durch das Abschmelzen von Eis entstehen neue Seewege, für Fracht-, Kreuzfahrt- und Containerschiffe, U-Boote, Öltanker und Eisbrecher“, sagt Nweeia. Seit 1990 hat sich die Zahl der Schiffe mehr als verdoppelt. Das Röhren der Motoren stört die Echolokalisierung der Meeresbewohner, außerdem setzen all diese Schiffe Abgase, Abwasser und Öl ins Meer frei. 

Auch seismografische Messungen – eine Methode, bei der starke Schallwellen ins Wasser geschickt und extrem laute Explosionen eingesetzt werden, um nach Öl und Gas unter dem Meeresboden zu suchen – sind gefährlich. Der Schall verscheucht Fische, Krill und Krebse, die Nahrungsgrundlage der Narwale, und kann die Säuger orientierungslos und sogar langfristig taub machen. „Letztens wurde ein Narwal in Europa gesichtet, das ist nicht normal“, so Nweeia. Gleiches gilt für Tiefseebohrungen, die kilometertiefe Löcher in den Meeresboden bohren. 

Das alles ist nicht nur für Narwale gefährlich, sondern hat Auswirkungen auf das gesamte Ökosystem der Arktis – eines der sensibelsten der Welt. Julia Ehrlich von der Universität Rostock erforscht den Einfluss des Klimawandels auf Biodiversität und Ökosysteme von Arktis und Antarktis. „Weil die Luft- und Ozeantemperatur steigen, bildet sich Meereis später im Jahr und viel weiter im Norden“, erklärt sie. „Weniger Eis bedeutet auch, dass das dunklere Wasser mehr Sonnenlicht aufnimmt und sich stärker erwärmt. Das beschleunigt das Schmelzen von unten und oben.“ 

Die Folge: Tiere und Pflanzen, die bei der Meereisbildung eingefroren werden, wie bestimmte Würmer oder Krebse, schaffen es nicht mehr in die zentrale Arktis. Ehrlich: „Früher entstand das Eis weiter südlich und trieb mit der Strömung, der Transpolardrift, langsam nach Norden – von der sibirischen Küste quer durch die Arktis nach Spitzbergen und Grönland.“ Heute ist das kaum mehr möglich. Die Eis-Autobahn in die Arktis ist praktisch unterbrochen, die eingefrorenen Tiere und Pflanzen bleiben zurück.

Klingt erst mal harmlos – könnte aber für das Ökosystem der Arktis folgenschwer sein. „Denn es kann Auswirkungen auf die ganze Nahrungskette haben“, sagt Ehrlich. Die winzigen Ruderfußkrebse zum Beispiel sind Hauptnahrung für viele Fische und Wale, weil sie besonders viel Fett speichern. Sie könnten nun von größeren Krebstieren, die aus dem Atlantik einwandern und sich in wärmerem Wasser wohlfühlen, verdrängt werden. Die bringen es aber höchstens auf zwei Zentimeter Länge und enthalten nicht mehr als drei Milligramm Fett. Fische, Vögel und Co müssen also viel mehr davon finden und fressen, um ihren Energiebedarf zu decken. Auch Makrelenschwärme und Kabeljau zieht es in den Norden. „Welche Folgen das alles hat, erforschen wir noch“, so Ehrlich.

Früher trieben eingefrorene Krebse, Würmer und Algen mit der Polardrift nach Grönland. Heute ist die Eisautobahn unterbrochen
— Julia Ehrlich, Universität Rostock

Fest steht: Verlierer des Klimawandels sind Arten, die sich auf die Arktis spezialisiert haben. Gewinner sind Generalisten, die sich breit gefächert ernähren und große Temperaturschwankungen aushalten. Besonders Karibus, Eisbären, Ringelrobben, Grönlandwale, Walrosse und eben Narwale kommen mit den wärmeren Temperaturen nicht klar. Auch der Polardorsch, der wohl wichtigste Fisch in der Nahrungskette der Arktis, ist laut Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, (AWI) stark bedroht. Denn hat das Wasser mehr als vier Grad Celsius, kann er nicht mehr so gut wachsen. Auch winzige Mikroalgen – die Nahrung für Zooplankton – sind betroffen. Sie gedeihen in und unter dem Eis. Weil es zurückgeht, fehlt ihnen nun aber der Lebensraum. 

Wer profitiert? An Land nur die Rentiere: Weniger Schnee bedeutet längere Phasen, in denen Pflanzen wachsen, von denen sie sich ernähren. Im Wasser Orcas und einige Algenarten: „Mehr Makroalgen, wie Seetang, tauchen in der Arktis auf, vor allem an Küstenregionen“, so Jonas Zimmermann vom Botanischen Garten der Freien Universität, Berlin. „Sie nutzen die wärmeren Temperaturen und das zusätzliche Sonnenlicht, das durch das nicht mehr vorhandene oder dünne Eis kommt.“ Weil weniger Eis vorhanden ist, können sie nun auch im kalten Winter wachsen. 

Grundsätzlich können Algen ein Plus sein, sie binden zum Beispiel viel CO2 und produzieren Sauerstoff. Doch es gibt ein Problem: Aufgrund des wärmeren Klimas findet die Algenblüte einiger Arten früher statt – die Tiere, die sie fressen, sind dann oft noch nicht so weit. Weil sie mehr Sonnenlicht und Nährstoffe bekommen und weniger Fressfeinde haben, können die Algen nun explosionsartig wachsen. Einige produzieren Gifte, wenn sie absterben. Außerdem entziehen sie dem Wasser durch Abbauprozesse Sauerstoff – in manchen Regionen sterben Muscheln und Fische. Nicht nur Tieren vor Ort fällt damit eine Nahrungsgrundlage weg, sondern auch Menschen.

Neue Gleichgewichte, aber wie stabil?

Manche Arten erweisen sich allerdings als erstaunlich anpassungsfähig. Eisbären zum Beispiel. Jüngst tauchen immer mehr Videos von ihnen auf, wie sie nicht auf Eisschollen Robben auflauern, sondern etwas unbeholfen – der flauschige, weiße Bauch wackelt hin und her – Rentierkälbern auf dem Festland hinterherjagen. Tatsächlich weichen Eisbären immer mehr auf andere Nahrungsquellen aus, fressen beispielsweise im Sommer die Eier von Gänsen, Enten und Seeschwalben. Etliche internationale Zeitungen jubelten: Hoffnung für Eisbären! Zwar gibt es Hinweise, dass sie sich genetisch langsam an die veränderten Bedingungen anpassen könnten – aber das dauert viele Generationen. „Das positiv zu bewerten, finde ich gefährlich“, sagt Ehrlich: „Mit Sicherheit werden sich neue Gleichgewichte bilden. Die Frage ist aber, wie widerstandsfähig, wie stabil diese sind.“

Höchste Zeit, die Arktis und ihre Bewohner zu schützen. Nur, wie?

Der Narwal – ein Sinnbild für die verletzliche Arktis, Foto: Martin Nweeia

Frühling 2000 – Martin Nweeia startet seine erste Expedition. Ganz allein. Und zwar an der Nordspitze von Baffin Island, der fünftgrößten Insel der Erde, die zwischen den kanadischen Arktisinseln und der Westküste Grönlands liegt. „Ich wollte die Umgebung erkunden, aber kannte niemanden da oben“, sagt Nweeia. In der Inuit-Siedlung Pond Inlet mietet er ein kleines Zimmer. „Viele Forschende wohnen hier in einem Hotel, ich wollte aber Teil der Gemeinde sein.“ Wenig später lernt Nweeia David Angnatsiak kennen – den besten Inuit-Jäger der Region. „Man warnte mich, dass er die meisten Menschen nicht mag“, erzählt Nweeia und lacht: „Als er mich sah, fragte er mich, was ich anziehen werde. Ich zeigte auf meine Daunenjacke. Er murmelte etwas auf Inuktitut, reichte mir einen Mantel aus Karibuhaut und sagte: Das wird deine Jacke sein.“ 

Um drei Uhr morgens brechen die beiden auf sturmfesten Schneemobilen auf, überqueren Eisschollen – und jagen Narwale. Seit Jahrhunderten praktizieren die Inuit, die den Narwal als Geschenk der Meere mit göttlichen Kräften bezeichnen, diese Tradition. Sie verwerten fast alles ihrer Beute: das Fleisch wird getrocknet oder fermentiert, das „Muktuk“ – die unter der Haut liegende Fettschicht – roh oder leicht gekocht gegessen, das Fett für Lampen verwendet, die Knochen für Baumaterial oder Werkzeuge. Die Jagd erfolgt nach Regeln: Bevor sie beginnt, gibt es Gebete oder Zeremonien, die Jäger:innen zollen den Tieren ihren Respekt. 

Innerhalb von drei Jahren hat Nweeia sechs Gemeinden in Nunavut, Kanada und Westgrönland besucht. Heute ist er überzeugt: „Die Indigenen wissen unglaublich viel.“ Schließlich hängt ihr Leben davon ab. „Jäger:innen testen ständig die Extreme von Tieren. Sie wissen, wie sie kommunizieren, was sie fressen, wo sie ihren Nachwuchs bekommen. Ein Blick und sie erkennen, zu welcher Familie ein bestimmter Narwal gehört.“ 

Stoßzähne verraten die Herkunft

Die Wissenschaft hänge an vielen Stellen hinterher – nicht nur in der Narwal-Forschung. Denn es fehlt ein wichtiger Baustein: die Verbindung zur Natur, der Respekt für die Umwelt. „Weder die fortgeschrittensten Technologien noch ein dreimonatiger Forschungsaufenthalt verschafft einem das Wissen, das Indigene sich ein Leben lang angesammelt haben“, so Nweeia: „Die Inuit erkennen allein am Stoßzahn, woher ein Tier stammt – ein kürzerer, dickerer bedeutet, das Tier kam aus dem Norden, ein längerer, dünner, aus dem Süden.“ Gerade deshalb inkludiert Nweeia Inuits in fast alle seine Forschungen. „Und zwar nicht in der Fußnote, sondern als Autor:innen“, so Nweeia. Das Wilson Center arbeitet außerdem daran, Indigene aus der Arktis zur COP 30 nach Brasilien zu holen: „Damit sie das Podium bekommen, das sie verdienen.“

Indigene Stimmen – ein Schlüssel, um die Arktis zu verstehen und zu bewahren. „Sie sehen die Welt nicht als Supermarkt, sie beuten sie nicht aus. Dieses Umdenken muss auch im Westen stattfinden“, so Nweeia. Was braucht es noch? „Das Meer ist weniger erforscht als das Weltall, in den Tiefseegebieten gibt es noch viele blinde Flecken – besonders, was die langfristige Folge von Meereisschmelze und Permafrost-Auftauung betrifft“, sagt die Rostocker Biodiversitätsexpertin Ehrlich. Doch Forschung ist teuer und die Planung kostet Zeit.

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„Neben Forschung braucht es vor allem Regulierungen für die Nutzung der Arktis, internationale Abkommen müssen ausgeweitet und effektiver umgesetzt werden“, so Ehrlich. Fischerei-Verbote erzielen bereits kleine Erfolge, auch die Einrichtung von Reservaten für empfindliche Ökosysteme bringt etwas. Ein Beispiel ist die kanadische Siedlung Clyde River: „Vor ein paar Jahren merkten die Jäger:innen, dass die Narwal-Population dort wegen seismografischer Messungen drastisch abnahm“, sagt Nweeia. Also klagte die kleine Inuit-Gemeinde mithilfe des Bürgermeisters gegen das National Energy Board Kanadas, Greenpeace unterstützte bei den Gerichtskosten. „Die Chancen auf einen Erfolg lagen bei unter zehn Prozent.“ Doch dann verbot der Oberste Gerichtshof 2015 dort tatsächlich die Messungen. 

Indigene Menschen wissen unglaublich viel. Bei einem Forschungsaufenthalt von drei Monaten können wir uns das nie aneignen
— Martin Nweeia, Narwal-Forscher

Auch der Einsatz des World Wide Fund for Nature (WWF) für Schutzgebiete trägt Früchte. Er setzt sich für Artenschutz in der Arktis ein – und ist unter anderem als Beobachter im Arktischen Rat vertreten: Mehr als 35 Millionen Hektar schützt der WWF vor Bergbau und anderen Eingriffen. Bereits seit 1992 gibt es das Arktis-Programm des WWF International, das auch vom WWF Deutschland unterstützt wird. Die Zahl der Eisbären zum Beispiel erhöhte sich von nur 5.000 in den 1950er-Jahren auf heute circa 27.000. Polar Bears International (PBI) wiederum setzt Drohnen und Kamerahalsbänder zur Erforschung des Verhaltens  von Eisbären ein, in Norwegen werden Polarfüchse ausgewildert – der Bestand wuchs von 40 Füchsen 2006 auf nun fast 300. Biodiversitätsexpertin Ehrlich: „Das ist ein Anfang. Was es aber vor allem braucht, ist eine Senkung der Temperatur – daran kommen wir nicht vorbei.“  

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