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Mitten im Schwarmschwirren

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08 Dez, 2024

This post was originally published on Good Impact

Wissenschaftler:innen erforschen mit Künstlicher Intelligenz, wie Tierschwärme funktionieren. Dabei lernen sie auch viel über Gehirne und das Klima.

Die Heuschrecke weiß nicht, dass sie in der Matrix lebt. Sie weiß nicht, dass die Artgenossen um sie herum nichts weiter sind als computergenerierte Attrappen. Sie weiß nicht, dass sie das einzig lebende Wesen in diesem gigantischen Schwarm ist und dass all ihre Bewegungen, sogar ihre Gehirnfrequenzen, mithilfe von Sensoren aufgezeichnet werden.

Alles, was sie weiß, ist, dass sie laufen muss. Immer weiter, in Richtung eines unbekannten Ziels. Um zu überleben, um zu fressen und nicht gefressen zu werden. Sie fühlt sich als Teil eines Ganzen, eines Schwarms von Jungtieren, der sich ohne Anführenden in Bewegung setzt und nach geheimnisvollen Regeln funktioniert. Regeln, die wohl die Heuschrecke selbst nicht kennt, denen sie aber zu folgen weiß.

Es sind Regeln, die eine Gruppe von Wissenschaftler:innen in Konstanz zu verstehen versucht. Dazu haben sie eine Matrix geschaffen, in der sich die Heuschrecke bewegt. Denn hinter der Frage, wieso die Heuschrecke in ihrer Gemeinschaft tut, was sie tut, steckt das Geheimnis von Schwärmen generell. Viele Insekten, Vögel, Fische, die meisten Affen und Menschen – sie verhalten sich in einer Gruppe instinktiv, formen als einzelne Individuen ein Kollektiv, das mehr ist als die Summe seiner Teile.

Digitale Bewegungsmuster eines Schwarms, Foto: Exzellenzcluster Kollektives Verhalten, Universität Konstanz.

Die große Frage für die Wissenschaft lautet: Wie funktioniert die Logik dieses Kollektivverhaltens? Und was lässt sich daraus über unsere Welt lernen? Die Geheimnisse von Schwärmen zu lüften, könnte Erkenntnisse bringen, die sich weit über die Tierwelt hinaus anwenden lassen. Schwärme scheinen nach einer Logik zu funktionieren, hinter der eine Art Grundregel der Evolution steckt. Auch Synapsen im Gehirn, Wassermoleküle, das Weltklima oder die Finanzmärkte verhalten sich nach einer schwarmähnlichen Logik. Die Wissenschaft nennt das „komplexe Systeme“.

Der 2018 gestorbene Astrophysiker Stephen Hawking sagte in einem Interview um die Jahrtausendwende: „Ich denke, das nächste Jahrhundert wird das Jahrhundert der Komplexität.“ Hawking könnte Recht behalten. Denn moderne Technik und Künstliche Intelligenz (KI) helfen den Menschen nun, die komplexen Systeme zu verstehen.

Auf einer Anhöhe in Sichtweite des Bodensees versucht ein Team von Wissenschaftler:innen, mit Hightech das Geheimnis des Schwarms zu knacken. Wer das „Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour“ der Universtität Konstanz betritt, läuft vorbei an einer Glaswand mit einem Muster, das bei genauerem Hinsehen eine Gruppe Origami-Vögel zeigt. An den Wänden der Flure hängen Fotos von Ameisenstaaten, Fischschwärmen und Paviangruppen, neben dem Eingang ist ein Aquarium. Im Gemeinschaftsraum steht ein ganzes Regal mit Puzzles. Denn darum geht es hier: in vielen Einzelteilen ein Muster zu erkennen und in vermeintlichem Chaos Ordnung zu finden.

Iain Couzin ist Professor für Biodiversität und Kollektivverhalten und hat das wohl schönste Büro des Instituts mit Blick auf Wald und See. Der Schotte gilt in der Verhaltensforschung als Koryphäe. Er hat viele Preise erhalten, 2022 die höchste deutsche Forschungsauszeichnung, den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis. Doch Couzin scheint der Trubel um seine Person eher unheimlich.

Es hat viel mit Glück zu tun, dass mir, einem Insektenfan, der Durchbruch in der Wissenschaft gelungen ist.
– Iain Couzin

Schon als Schüler hat Couzin Insekten in seinem Schulspind gesammelt. Besonders faszinierten ihn Ameisen und die Frage, wie diese Kreaturen ohne Anleitung einen ganzen Staat bauen können. Am wohlsten fühlt sich Couzin heute noch, wenn er ungestört Tiere beobachten kann. Als der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann 2023 das Institut besuchte, trug Couzin ein T-Shirt mit einem Fischschwarm unter dem Jackett.

Komplexitäts-Forscher Iain Couzin, Foto: Axel Giersch.

In seiner Anfangszeit, den 1990er-Jahren, war die Verhaltensforschung eine Arbeit für Liebhaber:innen. Sie war langwierig und lieferte kaum wissenschaftlich anerkannte Ergebnisse. Couzin studierte die Felsspalten, in denen die Ameisenvölker lebten, und versuchte, das Verhalten der Individuen in der Gruppe nachzuvollziehen. „Ich habe die Ameisen farblich markiert, um sie auseinanderzuhalten“, erinnert sich Couzin.

Es war unfassbar schwierig zu erkennen, was dort vor sich geht.
– Iain Couzin

Er filmte die Bewegungen der Tiere und musste sich das Video bis zu 70-mal ansehen, um sich dabei das Verhalten der einzelnen Insekten zu merken. „Verhaltensforschung war damals sehr subjektiv“, sagt Couzin. „Jemand anderes hätte sich das exakt gleiche Video anschauen und ganz andere Schlussfolgerungen ziehen können.“ Ein riesiges Problem für die Arbeit. Denn wissenschaftlich reproduzierbar sind solche Forschungsergebnisse nicht. Erst mit dem Einsatz von KI hat sich das geändert. Im Keller des Instituts arbeitet sie nun rund um die Uhr – erstellt gewaltige Simulationen, in denen Heuschrecken virtuellen Schwärmen folgen oder vor virtuellen Gefahren fliehen.

Ein luftiger Raum, elf mal elf Meter groß, sechs Meter hoch, ausgekleidet mit Camouflage-Netzen. Hier, im „Imaging Hangar“, können die Forscher:innen das Verhalten von mehreren tausend Insekten mithilfe von Kameras und Sensorik genau verfolgen. Seine Größe bietet den Vorteil, dass Insekten wie Motten im Flug Geschwindigkeiten erreichen, die sie in kleineren Laboren nie erreichen könnten. Hier lässt sich auch erproben, wie Insekten auf Reize reagieren. Zum Beispiel auf die vier Blumenkübel mit Pflanzen wie Lavendel oder Schmetterlingsflieder am Boden.

Heuschrecken sind in Konstanz die Stars. Denn zum einen sind ihre großen Zusammenballungen so etwas wie der Prototyp eines Schwarms. Zum anderen beeinflussen sie seit Jahrtausenden die Menschheit. In Ostafrika wachsen die Schwärme auf bis zu 70 Milliarden Insekten an und fressen Landstriche kahl. Bis heute ist unklar, wie diese Schwarmgiganten Entscheidungen treffen. Ließe sich die Bewegung eines Schwarms vorhersagen und kontrollieren, könnten Landwirt:innen präzise reagieren – ohne den Einsatz von Pestiziden. Für die Forschung in Konstanz sind Jungtiere besonders geeignet, weil sie noch nicht fliegen können.

Im April 2023 waren 10.000 Heuschrecken im Imaging Hangar zu Gast. Wie verhält sich der Schwarm bei der Nahrungssuche? Wie ändert sich das Verhalten der Tiere, wenn  mehr hinzukommen? In Kleingruppen sind die sogenannten Wüstenheuschrecken harmlos. Doch je größer der Schwarm wird, desto größer wird offenbar der Stress für die Tiere, desto aktiver werden sie und desto mehr orientieren sie sich aneinander. Couzins Forschungsteam hat herausgefunden, welches Gefühl die Tiere dabei anzutreiben scheint: Angst. Denn wenn Heuschrecken hungrig sind, werden sie zu Kannibalen. Ein Heuschreckenschwarm ist also im Prinzip eine „mobile, kannibalistische Horde“, wie Couzin sagt. Der Schwarm entsteht letztlich aus einem Kollektiv von verängstigten Tieren, das jedes für sich das eigene Überleben sichern möchte.

Die Forscher:innen konnten mithilfe digitaler Technologie eine Theorie bestätigen, die Anfang der 1970er-Jahre aufgestellt wurde. Verhalten sich Individuen egoistisch, schaffen sie für das Kollektiv den bestmöglichen Zustand. Die Tiere tun sich also nicht in Gruppen zusammen, weil sie die Gesellschaft suchen. Es ist ein egoistischer Trieb:

Je mehr Tiere um mich herum sind, desto geringer ist die Gefahr, dass ich selbst bei einem Angriff gefressen werde.
– Iain Couzin

Manche Schwärme allerdings verhalten sich keineswegs egoistisch. Paviane etwa. „Dem Anführer folgen?Gruppenentscheidungen sind bei Anubispavianen demokratisch“ – lautete der Titel seines Artikels, den das renommierte Wissenschaftsmagazin Nature 2015 auf dem Cover druckte. Der Text katapultierte Couzin von der Nische der Ameisenspalten in die High-Society der Forschungsgemeinschaft.

Im Auge des Schwarms: Hai im Meer, Foto: Opmeer Reports.

Auch bei den Affen wollte Couzin wissen: Wie entscheidet die Paviangruppe, in welche Richtung sie sich durch die Savanne bewegt? Couzin versah die Tiere mit einem GPS-Sender und kam zu einem erstaunlichen Ergebnis: Obwohl sich Paviane grundsätzlich hierarchisch organisieren, fällen sie Richtungsentscheidungen nach demokratischen Regeln. Statt wenigen Leitfiguren die Entscheidung zu überlassen, bewegt sich die Gruppe in die Richtung, die den meisten Tieren angenehm erscheint. Vermutlich, weil es sich als effizienteste Strategie erwiesen hat.

Längst sind auch Wissenschaftler:innen aus Psychologie, Ökonomie, Soziologie und Philosophie in Konstanz dabei. Schließlich ist die Frage, wie sich Individuen in einem Schwarm gegenseitig beeinflussen, auch bei einem besonders komplexen Tier interessant: dem Menschen. So beobachteten die Forscher:innen in Konstanz, dass menschliche Individuen in einer großen Gruppe ihren Zustand an die anderen Gruppenmitglieder unwillkürlich anpassen. Stress etwa überträgt sich körperlich nachweisbar auf das Kollektiv – wohl, um so besser auf Gefahrensituationen reagieren zu können.

Während man menschliche Proband:innen zu ihren Erfahrungen in Experimenten befragen kann, braucht es bei Tieren einen Trick: virtuelle Projektionen. Wer sich diese in Konstanz anschaut, sieht nur eine Reihe schwarzer Wassertanks. Die Zebrafische in diesen Tanks allerdings sehen viel mehr. Sie glauben sich in einem Tümpel und meinen, dort mit Artgenossen ihre Runden zu drehen. Doch die anderen Fische sind virtuelle Attrappen, mit denen sich das Verhalten von Fischen im Schwarm testen lässt. Wie reagiert der echte Fisch? Mithilfe der virtuellen Kopien konnten die Forscher:innen eine rhythmische Kopplung mit dem echten Zebrafisch eingehen – eine Art kollektiven Unterwassertanz tanzen.

Ein Geheimnis des Schwarms haben sie dabei gelüftet: Intuitiv halten die Fische genauen Abstand zu ihren Artgenossen ein und ahmen deren Bewegungen nach. Für diese rhythmische Synchronisation brauchen sie ein Gefühl für den eigenen Körper und müssen verstehen, wo sie sich gerade befinden. Forschende nennen das den „sechsten Sinn“.

Alexander Mathis, Assistenzprofessor für computergenerierte Neurowissenschaften im schweizerischen Lausanne, schaut sich diesen sechsten Sinn genauer an: Wie verarbeitet das Gehirn Informationen aus Gelenken, Muskeln und der Haut, um ein Gefühl für den Raum zu bekommen? Denn auch das Gehirn kann als eine Art Schwarm verstanden werden. Es ist ein komplexes System einzelner Neuronen, die miteinander interagieren, und ermöglicht, dass Menschen ihren Körper und den Raum, in dem sie stehen, wahrnehmen. Dass sie erkennen, dass sie gerade eine Kaffeetasse in der Hand halten oder einen halben Meter von einer anderen Person entfernt sind.  „Mithilfe von Deep-Learning-Modellen können wir die Architektur des Gehirns vereinfacht nachbauen und die Verschaltung der verschiedenen Rezeptoren modellieren“, erklärt Mathis. So verstehen die Forscher:innen besser, welche Muskelreize etwa das Gehirn wie verarbeitet.

Große Datensätze und selbstlernende Algorithmen helfen uns auch zu verstehen, wie das Gehirn Wahrnehmungsprobleme löst.
– Alexander Mathis

Mithilfe der KI-Modelle könnten später etwa Prothesen so gebaut und mit dem Gehirn verbunden werden, dass sie vom Gehirn wie echte Körperteile wahrgenommen und gesteuert werden.

Auch das Klima lässt sich als komplexes System verstehen, das Schwärmen gleicht. Wie interagieren die Komponenten des Erdsystems – Luft, Gewässer, Permafrost, Gesteine und Lebewesen – miteinander? Denn komplexe Systeme bergen eine große Gefahr. Es kann bei ihnen immer wieder zu plötzlichen Zustandsveränderungen kommen, die die Wissenschaft „Phasenwechsel“ nennt. Wie im System Wasser, in dem Moleküle eine stabile Verbindung miteinander eingehen. Auch wenn sich die Außentemperatur ändert, ist über lange Zeit erst mal keine Zustandsveränderung zu erkennen – bis die Temperatur unter null Grad Celsius sinkt und das Wasser plötzlich gefriert. Während sich dieser temperaturbedingte Phasenwechsel beim Wasser sehr leicht vorhersagen lässt, ist er beim Weltklima bisher schwer zu prognostizieren. Doch ein Phasenwechsel des Klimas könnte zu jenen Kipppunkten führen, vor denen Klimaforschende seit Jahren warnen.

Ähnlich wie bei Heuschrecken oder Fischschwärmen wollen Forscher:innen daher verstehen, wie sich die Klimakomponenten gegenseitig beeinflussen. In letzter Zeit hat die Forschung dank einer ständig wachsenden Menge an Beobachtungsdaten, verbesserten, hochauflösenden Modellen und maschinellem Lernen große Fortschritte gemacht. Mit KI lassen sich nun Muster erkennen, die lange verborgen blieben. Ein Forscher:innenteam der „Royal Society“, der nationalen Akademie der Wissenschaften des Vereinigten Königreichs, deutete 2023 an, dass sie mit KI bald Kipppunkte vorhersagen könnten.

In Konstanz hat Couzin eine große Vision. Er will verstehen, wie die unterschiedlichen komplexen Systeme der Welt miteinander verknüpft sind. „Und wie entsteht im Gehirn Verhalten?“ Auch das Gehirn ist letztlich nichts anderes als ein Schwarm von Neuronen, die miteinander interagieren, sich synchronisieren und gegenseitig beeinflussen.

Wie bildet sich dabei Bewusstsein, wie Kreativität? „Wir stehen gerade am Anfang“, sagt Couzin. Die Heuschrecke in Konstanz ahnt von all dem nichts. Sie weiß nicht, dass ihr Verhalten wichtige Anhaltspunkte liefern könnte, um die Beschaffenheit unserer Welt besser zu verstehen. Sie weiß nicht, dass sie Teil eines komplexen Systems ist und dass dieses System nur funktioniert, wenn alle Individuen sich an ihre Rolle halten. Vielleicht wäre es ihr auch egal. Für sie zählt einzig und allein, immer weiterzulaufen.

 

 

 

 

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