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Krieg ist kein Männerclub – Sicherheitspolitik braucht alle

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15 Juni, 2025

This post was originally published on Good Impact

Sie verhandeln über Frieden, stabilisieren Regionen, stellen Fragen, die Männer vergessen. Trotzdem bleiben Frauen in der Sicherheitspolitik oft außen vor. Warum?

Draußen, vor der Fensterfront des Europaparlaments (EP), treibt der Wind die blauen Fahnen auseinander – als wolle er prüfen, wie viel Gezerre die zwölf Sterne aushalten. Dennoch wirkt Brüssel aufgeräumt, diszipliniert: Kein Müll auf den Straßen im Europaviertel, nicht mal ein Bonbonpapier. Ein paar Schritte weiter, auf dem Place du Luxembourg, ranken Krokusse und Märzenbecher aus der taunassen Wiese, ein paar Frühaufsteher:innen schlürfen in den ersten Sonnenstrahlen Kaffee. E-Scooter schlängeln sich durch die Straßen, Ausweise baumeln um die Hälse der Fahrer:innen – die Eintrittskarte zur Weltpolitik. Ein langes blaues Banner verbindet die eine Seite des EU-Parlaments mit den Verwaltungsgebäuden auf der anderen. Darauf die Worte: Democracy in Action. Auch wenn hier draußen nicht viel von Anspannung zu spüren ist, wirkt die EU seit dem Antritt von US-Präsident Donald Trump wie in Schockstarre.

Denn die Ereignisse überschlagen sich: Trump kündigt Europa den Beistand auf, droht mit einem Ausstieg aus der Nato und erhebt Gebietsansprüche auf das Territorium Verbündeter. Die EU könnte einen ihrer wichtigsten Bündnispartner verlieren. Und das, während Putin die Kriegsmaschinerie hochfährt, keine echte Waffenruhe in der Ukraine in Sicht ist, Israel weiter Raketen auf Gaza feuert, China vor Taiwan aufmarschiert. Keine Frage: Die EU muss künftig mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit übernehmen. Doch wie? Und wer redet da überhaupt mit?

Debattenrunde: Mehr Frauen in der EU-Sicherheitslandschaft?

Drinnen, in einem Raum des verwinkelten Spaak-Gebäudes des EP, benannt nach dem ehemaligen belgischen Ministerpräsidenten Paul Henry Spaak, dominieren normalerweise Anzüge und Krawatten, Männer die über Krieg und Frieden fachsimpeln. Heute sind die Stühle besetzt von Frauen: Politikerinnen, Soldatinnen, Kriegsjournalistinnen. Sie sprechen über Strategien, Risiken, Geld, Abschreckung – und darüber, warum Frauen in diesem Raum immer noch wie eine Ausnahme wirken, statt wie die Regel. Welche Rolle sollen und wollen sie künftig in der Sicherheitslandschaft der EU spielen? 

Zusammengekommen sind sie an diesem Mittwoch im März für die „Women In Leadership Conference“, moderiert von der spanischen EU-Abgeordneten Lina Gálvez. Rechts neben ihr am Rednertisch sitzen Oana Lungescu, rumänische Journalistin, ehemalige und erste weibliche Nato-Sprecherin, und Jonna Naumanen, EU-Botschafterin für Gender und Diversity. Auf einer großen Beamer-Leinwand hinter den beiden, die ukrainische Politikerin und Co-Gründerin des ukrainischen Frauenkongresses, Mariia Ionova, zugeschaltet aus Kiev. In den Zuschauerrängen: fast kein Mann. Eingeladen waren Männer genau wie Frauen. Gekommen ist kaum einer.

Sicherheitsforscherin Leonie Stamm (li.), Friedens-Unterhändlerin Miriam Coronel-Ferrer (Mitte), Europaparlamentarierin Lina Gálvez (re.), Fotos: DGAP Zsófia Pölöske, Imago / Naushad / Future Image

„Wenn du keinen Platz am Tisch hast, stehst du ziemlich sicher auf dem Menü“, sagt EU-Gender-Botschafterin Naumanen. Was sie damit meint: Wenn Frauen in der Verteidigungspolitik fehlen, dann fehlt auch die Vertretung ihrer Interessen. Dabei ist das so wichtig wie nie, in Europa und anderswo: In Afghanistan werden Frauen wie Objekte behandelt, die USA schränken das Recht auf Abtreibung ein – Rechtsextreme möchten verheirateten Frauen gar das Wahlrecht entziehen –, in Deutschland will die AfD die Frauenquote abschaffen. Immer mehr Frauen und Kinder sind in Kriegen sexualisierter Gewalt ausgesetzt. „In den vergangenen Jahren ist die Zahl drastisch gestiegen“, so Gálvez. Manche Studien sprechen von einem Anstieg von 50 Prozent allein 2023.

Allein in der Ukraine kämpfen 60.000 Frauen, 10.000 davon an der Front
— Mariia Ionova, ukrainische Politikerin

Doch: Nur ein kleiner Teil der Medienberichterstattung über bewaffnete Konflikte befasst sich mit Frauen. Eine 2015 von der Weltvereinigung für Christliche Kommunikation (WACC) und UN Women durchgeführte Studie untersuchte Medien in 15 Konfliktländern. Das Ergebnis: Nur 13 Prozent der erwähnten oder interviewten Personen in den Beiträgen waren weiblich. Statt mit ihnen zu sprechen, wird über sie geredet – und das nur als Opfer. „Ein Narrativ, das dringend geändert werden muss“, sagt die Ukrainerin Mariia Ionova auf der Videoleinwand. „Allein in der Ukraine kämpfen 60.000 Frauen, 10.000 davon an der Front“, sagt Ionova. 

Frauen machen Friedensschlüsse nachhaltiger

Nicht nur das: Die UN haben seit 2024 eine neue Militärberaterin – die Australierin Cheryl Pierce –, in Israel und Palästina versuchen Vereine wie Women Wage Peace und Women of the Sun, Versöhnung herzustellen. Sie sind für den Friedensnobelpreis nominiert. Forschungsergebnisse der International Crisis Group im Sudan, Kongo und in Uganda zeigen, dass Frauen in Verhandlungen vermehrt Themen wie Menschenrechte, Sicherheit, Gerechtigkeit, Bildung und Gesundheitsversorgung ansprechen – Themen, die entscheidend sind für Aussöhnung und Wiederaufbau. 

„Frauen sorgen für Frieden“, sagt die rumänische Journalistin und Ex-Nato-Sprecherin Lungescu. Das belegen auch Zahlen: Laut einer Studie aus dem Jahr 2018, in der 40 Friedensverhandlungen untersucht wurden, war der Frieden um 35 Prozent nachhaltiger in den folgenden 15 Jahren, wenn auch Frauen am Verhandlungstisch saßen. „Frauen einzubinden ist also nicht nur fair, sondern auch smart“, so Lungescu. 

Weltweit gibt es bereits einige Beispiele, wo das – zumindest ansatzweise – gelingt. Wie in den Philippinen: Vor zehn Jahren kämpfte die Moro Islamic Liberation Front (MILF) gegen die philippinische Regierung. Hunderttausende Menschen starben. Zum ersten Mal schickten die Vereinten Nationen eine Frau, die philippinische Politikwissenschaftlerin Miriam Coronel-Ferrer, um für die Regierung Verhandlungen mit der Rebell:innengruppe zu führen – 2014 unterzeichneten sie ein Friedensabkommen. Sie war die erste Frau weltweit, die als Chefunterhändlerin eine große Friedensverhandlung abschloss. 

Dann ist da noch Kolumbien. Dort gibt es die linke Rebell:innengruppe Farc-EP. Sie hat ein feministisches Programm, rekrutiert also auch Frauen. Als dort 2016 Friedensverhandlungen mit der Regierung anstanden, saßen am Verhandlungstisch Frauen und Männer – auf Regierungs- wie auf Rebell:innenseite. Die Gespräche liefen erfolgreich: Im September unterzeichneten beide Parteien ein Friedensabkommen. 

Ohne Frauen keine Stabilität, keine Sicherheit. Ohne Frauen keine durchhaltefähige Verteidigung – und ohne Frauen kein Frieden
— Boris Pistorius, Bundesverteidigungsminister

Auch in Deutschland fordert die Politik immer mehr Einbindung von Frauen: „Ohne Frauen keine Stabilität, keine Sicherheit. Ohne Frauen keine durchhaltefähige Verteidigung – und ohne Frauen kein Frieden“, sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius bei einer Konferenz 2023.

Die Realität sieht anders aus. Das zeigt der SHEcurity-Index der grünen Europaparlamentarierin Hannah Neumann: Frauen sind in der EU und den G20-Ländern zwar immer stärker in Parlamenten vertreten, doch in den Außenpolitik-Ausschüssen sind nur etwa 26,3 Prozent Frauen, in den Verteidigungsausschüssen 13 Prozent. In Außenministerien besetzen Frauen knapp 47 Prozent der Posten, aber nur rund 23,1 Prozent der Botschafter:innen weltweit sind Frauen. Auch im Militär liegt der Frauenanteil gerade mal bei 12,6  Prozent, auch wenn er leicht steigt. 

Was braucht es also, damit mehr Frauen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik mitreden?

Mehr Mentoring nötig

Ein wichtiger Baustein: Mentoring. Frauen nehmen andere Frauen an die Hand, zeigen ihnen Berufswege auf und erzählen von ihren Erfahrungen. So, wie bei Women in International Security (WIIS), einem Netzwerk, das Frauen in Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, NGOs, Stiftungen und Universitäten zusammenbringt. 1987 in den USA gegründet, existiert der deutsche Ableger seit 2003. „Heute haben wir 900 Mitglieder – im Vorjahr waren es noch 750“, sagt Gründerin Silvia Petig, die früher Sprecherin im Verteidigungsministerium war und heute bei Airbus arbeitet: „Das Durchschnittsalter sinkt, es liegt bei knapp unter 40 Jahren.“ Neben Jobbörsen und Konferenzen organisiert das WIIS Mentoring-Programme: Seit Mai 2024 haben sich 21 Paare gebildet.

Einmal im Jahr findet auch das „Women’s Breakfast“ in der Residenz München statt. Hier kommen aus der ganzen Welt Ministerinnen, Abgeordnete, Expertinnen für Sicherheitspolitik und Frauen zusammen, die Verantwortung in der Zivilgesellschaft übernehmen, um sich auszutauschen. 2024 reisten so viele Teilnehmerinnen wie nie zuvor an. Auch die Bundeswehr bietet Coachings für Frauen an. Die spanische EU-Abgeordnete Lina Gálvez fordert zudem gezielte Förderung. „Zum Beispiel durch Stipendien und geschlechtsneutrale Einstellungsverfahren, mehr weibliche Vorbilder und Schutz vor Belästigung und Diskriminierung am Arbeitsplatz – das gilt vor allem für die Streitkräfte.“ 

Gleichberechtigung beginnt oft schon im Kleinen. „Ich musste auf Einsätzen viel zu schwere Männerwesten tragen. Irgendwann zieht man sie aus – und bringt sich in Lebensgefahr“, erinnert sich auf der Brüsseler Frauenkonferenz die spanische Kriegsjournalistin Natalia Sancha. Soldat:innen fehle es oft an Hygieneprodukten. „Auch Menstruationsartikel müssen bei der Versorgung mitgedacht werden“, so Leonie Stamm, Research Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. 

Ich musste auf Einsätzen viel zu schwere Männerwesten tragen. Irgendwann zieht man sie aus – und bringt sich in Lebensgefahr
— Natalia Sancha, spanische Kriegsberichterstatterin

Stamm arbeitet zu feministischen Ansätzen in der Außen- und Sicherheitspolitik. „Das Bild von Frauen als Friedensbringerinnen lehne ich ab“, sagt sie. „Frauen sorgen nicht allein durch ihr Frausein für Frieden. Aber: Sie bringen Realitäten ein, die sonst keine Beachtung finden.“ Das „Add women and stir“-Prinzip – also einfach mal ein paar Frauen in den Politik-Topf werfen – reiche aber nicht, es brauche nachhaltige Veränderungen, so, wie damals die UN-Resolution 1325 mit der Agenda „Frauen, Frieden und Sicherheit“ aus dem Jahr 2000. „Das war ein Meilenstein, der erstmals geschlechtsspezifische Auswirkungen von Konflikten und die Rolle von Frauen und ihre Expertise in Friedensprozessen berücksichtigt hat“, sagt Stamm. Das Problem: Das ist mehr als ein Vierteljahrhundert her.

Jetzt, wo die EU einen neuen Weg einschlägt und Rüstungsausgaben in Milliardenhöhe hochschraubt, stellt sich die Frage neu: Wer bestimmt über die künftige Sicherheitsarchitektur? Welche Rolle spielen Frauen? „Geld wird zunehmend für militärische Verteidigung ausgegeben und immer weniger für Konfliktprävention, Peace-building, Diplomatie und Entwicklungspolitik – auch in Deutschland. Dabei entstehen Sicherheit und Frieden nicht nur durch militärische Mittel“, sagt Stamm. Besonders wichtig sei die Einbindung all jener, die von Krieg und Krisen am meisten betroffen sind – und bislang am wenigsten mitentscheiden dürfen. 

Genderfragen konsequent mitdenken

In der EU sind derzeit drei der Spitzenpositionen mit Frauen besetzt: die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen, die Präsidentin des Europäischen Parlaments Roberta Metsola und die Präsidentin der Europäischen Zentralbank Christine Lagarde. Was sich abzeichnet: Der Fokus auf „harte Sicherheit in der EU“, erklärt Stamm. Aus feministischer Perspektive ein Widerspruch oder eine Notwendigkeit? „Das kommt auf den feministischen Blickwinkel an. Spricht man mit Feminist:innen in der Ukraine, die von Bedrohung betroffen sind, bekommt man eine andere Antwort als in Spanien.“ Was wichtig sei: „Genderfragen dürfen hier nicht zum Nebenschauplatz mutieren, sondern müssen konsequent mitgedacht werden.“ 

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Die Rolle der Frauen wird auch im Militär relevanter. Bisher gilt nur in Schweden seit 2017 die Wehrpflicht für Frauen und Männer. Doch wie steht Deutschland überhaupt zu dem Thema? Bei einer Umfrage des Mitteldeutschen Rundfunks im Mai 2024 waren 61 Prozent der 25.000 Befragten für eine Wehrpflicht. Im April 2025 sprachen sich laut ARD-DeutschlandTrend 72 Prozent der Gesamtbevölkerung für die Wiedereinführung aus, fast die Hälfte will auch Frauen verpflichten. Bei den 18- bis 34-Jährigen unterstützen 31 Prozent eine Wehrpflicht für alle, während 24 Prozent nur Männer verpflichten wollen. Etwas scheint sich zu verändern. Aber: „Dafür bräuchte es eine Verfassungsänderung“, sagt Stamm. 

Vor dem Europaparlament dämmert es, drinnen tagt noch das Parlament. Ein paar EU-Mitarbeiter:innen, Ärmel hochgekrempelt, sitzen auf Bänken, nippen an ihrem Feierabendbier. Gesprächsfetzen wabern über den Place du Luxembourg, der Geruch von Pasta und Fritten. Vor dem Democracy-in-Action-Banner drängt sich eine Gruppe Mädchen, Handys hochgereckt, Peace-Zeichen. Ein Schulausflug aus Madrid. Was die EU für sie bedeutet? Kurzes Schweigen, Achselzucken. „Die EU interessiert mich eigentlich nicht“, sagt ein Mädchen, die anderen kichern. Eine Schülerin legt nach: „Ich glaube, die EU hält zusammen. Angst habe ich keine.“ Ein paar Meter weiter klappt ein Kellner Stühle zusammen. Es ist spät. Morgen wird hier wieder über die Zukunft verhandelt.   

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