Suchen

Der Eisrausch

We are an online community created around a smart and easy to access information hub which is focused on providing proven global and local insights about sustainability

23 Mai, 2025

This post was originally published on Good Impact

Die Polregion im Norden hat schon immer Eroberungslust ausgelöst. Was steht auf dem Spiel, wenn wir sie auf unserer Jagd nach den letzten großen Rohstoff-Reservoirs zerstören?

Mit diesem Eiswürfel zergehen Hunderttausende Jahre auf deiner Zunge. Die Kälte einer anderen Zeit, das Wasser einer vergangenen Welt, der Sauerstoff, den Tiere geatmet haben, die es nicht mehr gibt. All das eingesperrt in einem winzigen, transparenten Kubus. In deinem Scotch wird er zu Bernstein. Die konservierten Zeitalter lösen sich auf: erst in deinem Glas, dann in deinem Mund und in deinem Magen. Deine Zellen nehmen einen Schluck Geschichte in sich auf!

Fühlst du dich nicht mächtig? Ein bisschen pervers vielleicht, ja, aber nicht auch insgeheim exklusiv wie ein König?

Auf diesen Effekt zählen jedenfalls die Bars, Hotels und Restaurants, die seit vergangenem Jahr teure Eiswürfel aus der Arktis bestellen und sie dann an ihren Theken noch teurer verkaufen. Vor der Küste Grönlands trägt das Start-up Arctic Ice im Sommer Gletschereis ab und verschifft es in die Vereinigten Arabischen Emirate, wo man Extravaganzen bekanntlich liebt. Und was könnte extravaganter sein, als in einem Wüstenland seinen Drink mit Polareis zu kühlen?

Als die Meldung über die arktischen Eiswürfel 2024 um die Welt ging, war die Empörung groß. Der Gründer des Start-ups erhielt angeblich sogar Morddrohungen. Wie kann er es wagen. Schließlich lieben wir es doch, unser Eis, unsere Arktis. 

Arktis im Glas – ein Renner in Luxushotels der Vereinigten Arabischen Emirate, Foto: Pexels Cottonbro

Wer hat als Kind nicht Polarforscher gespielt? Wer ist nicht mit der Geschichte des kleinen Eisbären eingeschlafen? Wer hat sich nicht – natürlich noch frei von dem Gedanken, dass es vielleicht ein bisschen problematisch ist, eine bedrohte Kultur zu spielen – mit seinen Geschwistern ein Iglu gebaut? Das ewige Eis, das ist der Stoff, aus dem unsere kühnsten Abenteuer-Träume sind. Ähnlich wie das Weltall, dessen menschenfeindlichen Lebensbedingungen wir auf der Erde nirgendwo so nah kommen wie in der Arktis, ist die Eiswüste eine Projektionsfläche für alles Dunkle und Schöne in uns.

Der Norden zeigt Ungeheures und Erhabenes. Schroffe Felsen, oben mit Schnee bedeckt, schließen einen Meerbusen ein, in welchem Stürme Schiffe verschlagen und durch ungeheure Eisschollen zerdrückt haben
— Johann von Quandt

Deshalb war sie bereits unter den Romantiker:innen unheimlich beliebt. Über das häufige Eis- und Arktis-Motiv in den Bildern Caspar David Friedrichs schrieb der Auftraggeber des Malers, Johann von Quandt, in einem Brief 1822, dass es wunderbar einfinge, „was der Norden Ungeheures und Erhabenes zeigt. Schroffe Felsen, oben mit Schnee bedeckt, an welchen kein armes Gräschen Nahrung findet, schließen einen Meerbusen ein, in welchem Stürme Schiffe verschlagen und durch ungeheure Eisschollen zerdrückt haben“. Schrecklich, schön, gefährlich, das ist die Arktis! Und das lockt im 19. Jahrhundert die Abenteuerlustigen an die Pole der Erde. Männer wie John Franklin, Fridtjof Nansen und Robert Peary wollen den Nordpol oder die Nordwestpassage „entdecken“.

Damals noch unbekannt und auch heute noch gern ignoriert –  die polynesischen Maori erreichten die Arktis schon Jahrhunderte vor den Europäer:innen. Und wiederum davor lebten indigene Völker bereits Jahrtausende in der Arktis. Doch der Hype um Expeditionen in den hohen Norden brach nicht ab. In gewissem Sinne ist das auch heute noch so. Wer damals ein Herr aus gutem Hause war und sich auf einem Eisbrecher oder Forschungsschiff einschiffte, der ist heute eben jemand mit gut gefülltem Geldbeutel, der eine Kreuzfahrt durch die weißen Schluchten der Eisberge bucht.

Nur ist diese Sehnsucht, das ewige Eis, leider nicht ewig. Und obwohl wir das wissen, tun wir wenig dagegen, dass jedes Jahr mehr davon verschwindet. 

Niedrigster Winter-Eisstand seit 1979

Am 21. März 2025 wurde der geringste Winter-Eisstand seit Beginn der kontinuierlichen Satellitenbeobachtung des arktischen Meereises im Jahr 1979 gemessen. Bis zu diesem Zeitpunkt galt 2017 als das Jahr mit der geringsten Ausdehnung des Meereises. Nun wurde dieser Negativrekord laut dem Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), übertroffen.

Grund für das große Schmelzen sind natürlich – man hat es schon geahnt – wir. Durch die menschengemachte Klimakrise wird der Planet immer heißer und das Eis weniger. Der 21. März ist ein Stichtag, weil unsere Polarmeere jedes Jahr im Winter die größte Eisausdehnung erfahren, ab April kommt der Frühling und das Tauen. Durch das überproportionale Schmelzen steigt der Meeresspiegel, das atmosphärische Zirkulationsmuster verändert sich – das bedeutet konkret mehr Extremwetter und Sturmfluten überall auf der Welt. Das Meereis reflektiert eigentlich einen erheblichen Teil der Sonnenstrahlung und trägt so zur Kühlung der Erde bei. Wenn das Eis schmilzt, ist praktisch unsere natürliche Sonnencreme verschwunden, was die Überhitzung beschleunigt. Auch der Permafrost, Eisböden, deren Temperatur für mindestens zwei Jahre ununterbrochen unter dem  Gefrierpunkt liegt, fließt dahin. Der uralte Frost der Pole ist jedoch einer der wichtigsten CO2-Speicher der Welt. Verlieren wir ihn, geraten die Kohlenstoffdioxid-Massen, die unter ihm schlummern, in die Atmosphäre und feuern dadurch die Erderwärmung noch mehr an – der Teufelskreislauf aus noch weniger Eis und immer höher kletterndem Meeresspiegel beschleunigt sich. 

Scharf auf die Schätze der Kälte

Geschäftsleute weltweit, wie der Gründer und CEO von Arctic Ice, haben jedoch offenbar kein Interesse daran, das Polareis zu schützen. Ganz im Gegenteil, sie wollen so viel mitnehmen wie irgend möglich. 

Im Sommer ermöglicht das Schwinden der Eisschollen zum Beispiel den Fischfang. Der ist nun aber auch zurückgegangen, Meereserhitzung, Verschmutzung und Überfischung sind Schuld. So kam der Gründer von Arctic Ice darauf, dass Eis doch eine gute Ersatz-Einnahmequelle für Grönland wäre. Eiswürfel kann man leichter abbauen, wenn es wärmer ist.

Und unter dem Eis liegen noch so viel mehr Schätze verborgen, die es zu bergen gilt: Unter der kalten Kruste locken Rohstoffe. Viele Rohstoffe.

Seltene Erden, Gold, Öl und Gas (laut Schätzungen des United States Geological Survey liegen etwa 13 Prozent der weltweiten Erdöl- und etwa 30 Prozent der weltweiten Erdgasreserven in arktischen Gebieten), all das wollen sich die Donald Trumps und Vladimir Putins dieser Welt unter ihren Nagel reißen (siehe Seite 41). Das schmelzende Eis wird manche dieser Rohstoffe laut Berechnungen von Forschenden des internationalen Exzellenzclusters „Climate, Climatic Change, and Society“ (CLICCS) an der Universität Hamburg bis 2100 so weit freilegen, dass sie quasi auf dem Präsentierteller der Großmächte landen. Damit der größte Teller aber auch ganz sicher vor dem richtigen Besitzer steht, möchte Donald Trump den amerikanischen Imperialismus wieder aufleben lassen und Grönland und Kanada den USA einverleiben. Aber auch die anderen Anrainerstaaten der Arktis, Dänemark (Grönland), Norwegen und Russland, kämpfen um die Ressourcen der Region. 2014 verkündete Xi Jinping Chinas Ambitionen, eine „polare Großmacht“ zu werden. Russland, Dänemark und China bauen ihre Militärpräsenz im Polarmeer massiv aus.

2024 beschloss Norwegen als erste Nation der Welt, den Tiefseebergbau in der Arktis zu erlauben, um an die wertvollen Mineralien des Meeresbodens zu gelangen. Gebraucht werden sie ironischerweise für klimafreundliche Technologien, für den Bau von Windkrafträdern oder Elektroautobatterien. Man muss die Schmelze ja nicht abwarten, man kann auch einfach mit dem Bohrer ran.

Die Arktis nutzen! In der Tat — eine solche Idee konnte nur dem Hirn eines Wahnsinnigen entsprungen sein!
— Jules Verne

Dieser Wettlauf um Ressourcen erinnert an den Roman Der Schuss am Kilimandscharo von Jules Verne aus dem Jahr 1818, in dem sich Russland, die USA, Dänemark und Co in einer Auktion um den Nordpol gegenseitig überbieten. Ein amerikanischer Reichen-Club kauft alles auf. Mithilfe eines gigantischen Geschosses, das vom Kilimandscharo aus abgefeuert werden soll, will der Millionärs-Club die Neigung der Erde so verändern, dass die Arktis in eine tropische Zone verwandelt wird. So sollen Bergbau, Landwirtschaft und Kolonisation in angenehmer Wärme möglich werden.

Im Buch heißt es: „Es wären die Amerikaner, die sich an die Spitze der Zeichner setzten, und Dollarströme würden in die Taschen der Projektentwickler fließen, so wie die großen Flüsse Nordamerikas in den Ozean münden – und darin verschwinden. (…) Die Arktis nutzen! In der Tat – eine solche Idee konnte nur dem Hirn eines Wahnsinnigen entsprungen sein!“

Jules Verne wäre wohl aus den Gamaschen gekippt, hätte er gesehen, wie nah die Realität im Jahr 2025 seiner einst satirisch gemeinten Dystopie vom Größenwahn westlicher Industrie- und Kolonialträume gekommen ist.

Der oben bereits erwähnte  internationale CLICCS-Forschungsbund hat im Magazin Science eine Studie veröffentlicht. In ihr gehen die Wissenschaftler:innen davon aus, dass bei einer Erwärmung von 2,7 Grad Celsius das jetzt noch von Meereis bedeckte Nordpolarmeer im Sommer bald monatelang eisfrei sein wird. „Die Arktis erwärmt sich viermal schneller als der Rest des Planeten“, sagt Julienne Stroeve, die am National Snow and Ice Data Center (NSIDC) in Boulder, Colorado, und an der Universität von Manitoba in Kanada forscht, in einem Statement des Clusters. „Bei durchschnittlich 2,7 Grad Celsius globaler Erwärmung weltweit werden wir deshalb in dieser Region besonders extreme Auswirkungen haben.“ 

Zu wenig Mitsprache für Indigene

Genau wie in Vernes Roman haben auch heute die vulnerabelsten Bewohner:innen der Arktis, die indigenen Menschen, viel zu wenig Mitspracherecht bei der wirtschaftlichen Erschließung ihrer Heimat. Auch das Überleben von Fauna und Flora spielt offenbar keine Rolle. 

Arktische Fische, Eisbären und manche Seevogelarten könnten aussterben. Das Meereis wird nicht mehr befahrbar sein, damit fallen nicht nur Jagd- und Transportwege für die Tiere, sondern auch für indigene Gemeinschaften wie die Inuit und Sámi weg, deren Kultur wiederum auf die Routen der Tiere ausgerichtet ist. Küsten werden erodieren, überflutet und Süßwasserreservoirs mit Salzwasser verunreinigt werden. Umweltgifte wie Quecksilber, ja sogar uralte und tödliche Bakterien werden freigesetzt werden, wenn wir nichts gegen das große Tauen tun.

In Sibirien wurde das bereit 2016 Realität, als ein Junge an der eigentlich als ausgerottet geltenden Milzbrand-Infektion starb – Forschende gehen davon aus, dass die Keime in durch den schmelzenden Permafrost freigelegten Kadavern überleben konnten. In der klirrenden Kälte der Arktis lagern sich besonders viele Nebenprodukte von Industrien und Pestizide ab und reichern sich an. So ist die Muttermilch stillender Inuit-Frauen zum Beispiel besonders häufig von Schadstoffen belastet. Die Verschmutzung und das Verschwinden ihrer Lebensgrundlage – des Eises – zerstört nicht nur die Gesundheit der Inuit, sondern auch die Grundlage ihrer Kultur. Der taz sagte die Inuit-Aktivistin Sheila Watt-Cloutier daher bereits in einem Interview aus dem Jahr 2015: „Wir verteidigen unser Recht auf Kälte.“

Was also können wir tun, für die Kälte?

Mitglied werden & Vorteile sichern

Unterstütze unsere redaktionelle Arbeit mit 5 € im Monat und erhalte dafür:

💌 Exklusive Newsletter mit Artikeln und Hintergründen

📖 Neue Magazine optional direkt zu dir nach Hause

🛒 Alle bisherigen Ausgaben zum halben Preis

🤍 Jederzeit kündbar und flexible Laufzeit

Wir sind nicht so machtlos, wie wir vielleicht glauben. So konnten hartnäckige norwegische Klimaschützer:innen und linke Parteien 2025 erreichen, dass der geplante Tiefseebergbau in der norwegischen Arktis vorerst gestoppt wird. Die arktische indigene Bevölkerung sitzt als ständiger Vertreter im Arktischen Rat, der auch über die wirtschaftliche Nutzung berät, und hat bei allen Entscheidungen Mitspracherecht. Auch die wissenschaftliche Forschung bindet indigene Gruppen endlich ein: In Kanada kooperieren Forschende zum Beispiel für ihre Studien über Schutzmaßnahmen der immer mehr gefährdeten Eisbär-Population mit indigenen Völkern, die seit Jahrtausenden mit den riesigen Tieren zusammenleben und ihr Verhalten besser kennen als jeder Harvard-Biologe.

Wir verteidigen unser Recht auf Kälte
— Inuit-Aktivistin Sheila Watt-Cloutier

Im September 2024 hat auch die Bundesregierung neue Leitlinien für die Arktispolitik verabschiedet. Diese betonen den Schutz des arktischen Ökosystems, die nachhaltige Nutzung von Ressourcen und die Wahrung der Rechte indigener Bevölkerungsgruppen. Natürlich geht es aber auch Deutschland um Sicherheit – wir haben kein Interesse daran, die Arktis Russland, den USA und China zu überlassen. 

Wie schrieb Jules Verne in einem anderen seiner Meisterwerke, Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer: „Die schöpferische Kraft der Natur übertrifft bei Weitem den Zerstörungstrieb des Menschen.“ Nun gilt es, sie dabei zu unterstützen. Wenn dir also irgendwann einmal ein Longdrink mit Polareis angeboten wird, sag: Nein, danke.  

The post Der Eisrausch appeared first on Good Impact.

Pass over the stars to rate this post. Your opinion is always welcome.
[Total: 0 Average: 0]

Das könnte Sie auch interessieren…

0 Kommentare