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Es fährt schon lange kein Zug mehr zum alten Herrnhuter Bahnhof, aber der Regiobus kommt auf die Minute pünktlich. Er ist voller Jugendlicher auf dem Nachhauseweg von der Schule, sie erzählen sich Witze in einem kräftigen Sächsisch, auch Sorbisch hört man hier, schließlich ist das die Oberlausitz. Es geht vorbei an mittelalterlichen Stadtmauern, von Nebel eingehüllten Feldern, auf denen auch im Oktober noch blaue Blumen blühen, an engen Gassen mit Kopfsteinpflaster und Fachwerkhäusern. Je näher wir Herrnhut kommen, desto häufiger blinkt warmes Licht von den Giebeln und Fenstern: Es stammt von den Sternen. Manchmal aus Papier, manchmal aus Kunststoff, in Rot oder Weiß oder Gelb hängen sie in ihrer stacheligen Form an Häusern, in Läden und an Laternen. Sie sind der vielleicht beliebteste Weihnachtsschmuck Deutschlands und von hier kommen sie: die Herrnhuter Sterne.
Herrnhut hat etwa 5.000 Einwohner:innen. Die langen Reihen weiß getünchter Häuser zeugen von evangelischer Nüchternheit. Neben der Bushaltestelle grasen Kühe. Die Geschichte dieser Gemeinde ist mit der Geschichte der Sterne eng verbunden. Anfang des 18. Jahrhunderts musste die böhmische Herrnhuter Brüdergemeine (so wird es tatsächlich geschrieben) fliehen: Im Zuge der Gegenreformation wurde die protestantische Gemeinschaft in Böhmen und Mähren verfolgt und beinahe ausgelöscht. Der lutherische Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf nahm die Glaubensflüchtlinge bei sich auf und ließ sie auf seinem Land siedeln: So wurde Herrnhut gegründet.
Die Gemeine war bekannt für ihre Bildung. Menschen aus weit entfernten Orten schickten ihre Kinder zum Unterricht in die Herrnhuter Internate. Um den Kindern Mathematik unterhaltsam zu vermitteln, erfanden die Erzieher der Gemeinschaft den Herrnhuter Stern: der Stern von Bethlehem als geometrische Konstruktion, ein Rhombenkubokta-eder (ein Korpus, der einem expandierten Würfel gleicht, der 8 gleichseitige Dreiecke und 18 Quadrate besitzt). An ihm werden Kegel befestigt, die die Strahlen des Sterns darstellen. Die Kinder berechneten und bastelten den faltbaren Korpus der Sterne damals aus weißem und rotem Papier, weiß für die Reinheit, rot für das Blut Christi.
Vom Bahnhof spaziert man acht Minuten zur Manufaktur. Es ist ein modernes Gebäude aus Glas und Beton, davor stehen rund ums Jahr Holzhütten mit Pagodenzelten wie am Weihnachtsmarkt. Die Sterne funkeln in allen Größen und Farben, in einem Glaskasten sind Sondereditionen ausgestellt: einige mit Blumenmuster, andere übersät mit glitzernden Steinen. „Für manche von denen zahlen Sammler Tausende Euros“, sagt Jacqueline Schröbel. Die Frau mit den kurzen braunen Haaren, der Brille und im roten Jackett, arbeitet schon ihr ganzes Leben für die Manufaktur, die bis heute im Besitz der Brüdergemeine ist. Sie hat das Branding und Marketing der Firma mit aufgebaut.
FESTTAGSDEKO RUND UMS JAHR
Stolz zeigt sie die Manufaktur: die Holzstuben, in denen heute Nachmittag junge Familien ihren eigenen Weihnachtsstern falten; die riesigen Lagerhallen; die Baumhauswelt, in der Kinder zwischen Sternen toben; die kleinen Büros, in denen Dutzende Mitarbeiterinnen in Handarbeit die Papiersterne falten und kleben. Fast alle Sternmacher:innen sind Frauen. „Viele haben als Mädchen in den Sommerferien bei ihren Müttern ausgeholfen. Wir haben schmalere Hände, das hilft beim Falten.“ Kann man Weihnachten noch genießen, wenn man rund ums Jahr von Festtagsdeko umgeben ist? Die Sternmacherinnen lachen. „Es geht gar nicht mehr ohne“, sagt eine. Fotografiert werden wollen sie nicht, nein, den Namen auch nicht gedruckt lesen. Pressescheu sind hier viele.
Die Sterne, die seit den 1890er-Jahren kommerziell vertrieben werden, überlebten den Nationalsozialismus (der dem Christentum nicht wohlgesonnen war) und die DDR. Man erzählt sich in Herrnhut, die einmarschierenden Russen hätten die Herrnhuter Häuser verschont, in denen rote Sterne hingen, weil sie diese für den roten Stern des Sozialismus hielten. Später, als die Stimmung in der DDR regierungskritischer wurde, erzählt Schröbel, hätten sich die roten Herrnhuter Sterne wiederum schlecht verkauft, weil man nicht mehr an die allgegenwärtige Sowjetunion erinnert werden wollte.
In der Schauwerkstatt der Manufaktur stellen gerade ein paar Mitarbeiterinnen die Sterne öffentlich her, sodass Besucher:innen verfolgen können, wie das Papier in Kegel gedreht, gestanzt und auf den Korpus geklebt wird. Es ist erst Mitte Oktober, aber proppenvoll. „Wer einen Slot für einen Familienbesuch oder für den Betriebsausflug buchen will, der kriegt vor 2026 eigentlich nichts mehr“, sagt Schröbel. Die Sterne werden immer beliebter. Das zeigt sich in den Zahlen: 2010 haben nach Unternehmensangaben 80 Mitarbeiter:innen etwa 300.000 Sterne gefaltet, 2023 waren es etwa 195 Mitarbeiter:innen und etwa 800.000 Sterne. „Wir kommen mit der Nachfrage gar nicht hinterher.“ Nicht nur die großen deutschen Weihnachtsmärkte rissen sich um die Sterne, sondern auch all jene Regionen, in denen die Brüdergemeine missioniert und sich einst ausgebreitet hat: Skandinavien zum Beispiel und die USA.
Muss man Mitglied der Kirchengemeinschaft sein, um hier zu arbeiten? „Nein“, sagt Schröbel. Auch sie selbst gehört keiner Konfession an. Hier, im Herzen Ostdeutschlands, könnte man dicht machen, wenn man nur religiöse Mitarbeiter:innen haben wolle. „Viel wichtiger ist, dass man sich mit den christlichen Idealen identifiziert: Nächstenliebe, Toleranz.“
Im Jahr 2024 hat diese Aussage etwas Bitteres. Die lichterne Welt steht inmitten von Sachsen, einem Bundesland, in dem auch in Herrnhut sehr viele Menschen die extremistischen Freien Sachsen und die AfD gewählt haben (in Herrnhut zweitstärkste Kraft knapp hinter der CDU), eine Partei, die nicht gerade für Religionsfreiheit und Nächstenliebe steht. Im Ortsteil Strahwalde am Rande der kleinen Stadt haben Ende Juni Rechtsextremist:innen, unter ihnen auch AfD-Mitglieder, ein Sonnenwendfest gefeiert, bei dem Lieder der Hitlerjugend gesungen wurden und ein SS-Standartenführer geehrt wurde. Wie passt das zusammen?
WELTOFFEN, BESCHEIDEN, KLARE KANTE GEGEN RECHTS
Im Herzen von Herrnhut steht der blütenweiße Kirchensaal der Brüdergemeine. Der einzige Schmuck ist, na klar, ein Herrnhuter Stern. Der Saal wurde 2024 als Teil der sogenannten Herrnhuter Siedlungen von der UNESCO als Weltkulturerbe ausgezeichnet. Transnational, denn die Siedlungen wurden in Irland, Dänemark und den USA nach denselben Prinzipien errichtet. Hier predigt Peter Vogt, der Gemeindepfarrer. Er hat als Schüler eines Herrnhuter Gymnasiums im Schwarzwald selbst Sterne gefaltet. „Unsere Architektur beruht auf unseren religiösen Prinzipien“, erklärt Vogt, „Bescheidenheit, Weltoffenheit. Der Glaube, dass alle Menschen gleich sind.“
Schmerzt es ihn nicht, dass dieser Ort von Extremist:innen gekapert wurde? „Wir wollen niemanden ausschließen und reden mit allen“, sagt Vogt, „aber wir sehen mit Sorge, dass insbesondere seit der Pandemie viel Unmut in der Region gewachsen ist und zu immer mehr Populismus führt.“ Damals nagelten Impfgegner:innen ein Plakat an die Tür des Kirchensaals: Pfaffen, duckt euch nicht weg. 2024 schloss sich die Gemeine dem Synodalbeschluss der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) an, dass die Übernahme kirchlicher Ämter und Aufgaben unvereinbar mit einer AfD-Mitgliedschaft sei. Die AfD gehöre „in unheiliger Allianz mit Rechtsextremen“ zu denjenigen, die Demokratie und Rechtsstaat aktiv bekämpfen.
In den vergangenen Jahren bezog die Herrnhuter Brüdergemeine generell politisch zunehmend Stellung. 2013 entschuldigte sich die Gemeine für ihre Beteiligung an Kolonialverbrechen. Im 18. Jahrhundert hatten die Brüder – die trotz des Namens Frauen aufnehmen – versucht, Indigene in Nordamerika sowie afrikanische Sklav:innen in der dänischen Kolonie St. Thomas in der Karibik zu missionieren, aber sich nicht gegen die Sklaverei ausgesprochen. 2019 gab die Brüder-Unität eine Erklärung ab, in der sie sich für die Rechte von Geflüchteten und gegen „Nationalegoismus“ und „Eurozentrismus“ stark machte.
Noch, sagt Vogt, habe die Gemeine keine Drohungen bekommen. Nur 2016, als sie an einem Kirchenasyl beteiligt war, gab es böse E-Mails. Vogt sucht trotzdem das Gespräch. Als sich die Brüder um den transnationalen UNESCO-Antrag bemühten, schlossen sie mit der Kommune einen Vertrag: Beim Weltkulturerbe sollte es nicht nur darum gehen, den Standort Herrnhut zu stärken, es sollte nicht nur die Architektur ausgezeichnet werden. Gewürdigt werden sollten, wie es in der Ehrung der UNESCO-Kommission letztendlich hieß, auch „die Werte der Toleranz und Inklusion“. Sachsens Regierung hätte daran ein großes Interesse gehabt, sagt Vogt. „Wir sollen ein Leuchtturm sein, der zeigt, dass wir auch anders sein können in Sachsen. Ein Kontrastprogramm zur AfD.“ Ein wirtschaftsstarker Ort, der auch eine christliche Erfolgsgeschichte ist. Ob denn die Bürger:innen von Herrnhut die Auszeichnung als Weltkulturerbe nicht auch als Anerkennung verstehen, die sie weltoffener machen könnte? „Das ist genau die Arbeit, die jetzt beginnt“, sagt Vogt. Geplant ist ein Film, vielleicht eine Ausstellung mit der Sterne-Manufaktur, in der ihre Geschichte erzählt wird. Am wichtigsten sei es aber, immer wieder Gesprächsräume zu schaffen, offen für alle.
An der Bushaltestelle sind die Kühe verschwunden. Es dämmert schon. Auch eine ältere Dame wartet hier und versucht hilfsbereit, eine Wespe, die die Reporterin umkreist, mit dem Ärmel zu verscheuchen. Sie arbeite schon seit zwanzig Jahren für die Sterne-Manufaktur, erzählt sie. In den Ruhestand zu gehen, kann sie sich nicht leisten. „Von wegen reiches Deutschland“ sagt sie, „alles eine Lüge.“ Aber die Sterne, doch, die Sterne liebe sie.
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